Uwe Altrock

Urban 21 - Wohin treibt die Fachwelt?

Die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte - „Urban 21“ - in Berlin 2000 transportierte große Hoffnungen auf eine Vertiefung des internationalen Verständigungsprozesses, der sich - bei aller Fragwürdigkeit pompöser internationaler Konferenzen - in Rio 1992 (Umweltkonferenz) und Istanbul 1996 (Habitat-Konferenz) entwickelt hatte. Mit dem Segen von Kofi Annan, Gerhard Schröder und Eberhard Diepgen versehen, wurde das Berliner Ereignis dennoch zu einer herben Enttäuschung. Dies drückt sich nicht allein in der Zusammensetzung der Teilnehmerschaft aus - der weitaus größte Teil stammte naheliegenderweise aus Deutschland, während diejenigen aus den USA an einer Hand abzuzählen waren, und weitere Kuriositäten ließen sich nachtragen -, in der weitgehend legitimatorisch eingesetzten Vorkonferenzen der Jugend, der Nichtregierungsorganisationen usw., über die auch der gutwillig-bemühte Klaus Töpfer in seinem anerkennenswerten Versuch nicht recht hinwegtäuschen konnte, in die Debatte über die schwierige Thematik auch die im Saal versammelte Öffentlichkeit einzubeziehen, und in den bisweilen dürftigen, technokratischen und ökonomistisch fixierten Veranstaltungen, die mehr der deklaratorischen Selbstdarstellung privatwirtschaftlicher Expertise dienten als der tatsächlichen Vermittlung analytischer und konzeptioneller Resultate oder gar einer kontroversen Strategiedebatte. Das prägende Defizit der Konferenz war wohl seine verkürzende Generalisierung, die sich in den Vorbereitungsdokumenten wie dem umstrittenen „Weltbericht zur Zukunft der Städte“ und dem Entwurf zur Abschlußerklärung ausdrückte, in der bisweilen schmerzhaft unkritischen und apolitischen „Wir können es alle schaffen“-Rhetorik, die noch im periphersten Winkel der Weltwirtschaft die Möglichkeiten für einen „Turn-around“ entdecken wollte, und in der optimistischen Konfliktglättungsformel von der „good governance“, einem Begriff, den man tunlichst nicht ins Deutsche übersetzen sollte, damit sich nicht, wie üblicherweise in der Pop-Musik, ein vermeintlich anspruchsvoller Song als trivialer Schlager entpuppt. Nein, auch die der Konferenz Glamour verleihenden Stars der Kritik am hegemonialen Weltmodell wie Saskia Sassen wurden von der eine Kaskade von Podiumsdiskussionen in die verschiedensten Begriffe wie „Forum“ usw. kleidenden Dramaturgie weitgehend aufgesogen und ergingen sich in allgemeinen und zu wenig differenzierten Anmerkungen aus einem in der Fachwelt hinlänglich bekannten Repertoire, die immer dann, wenn es in die Ebene der konkretisierenden Strategiebildung gehen könnte, nebulös blieben. Nur eine kleine Schar von Widerständlern aus dem Spektrum der wohlgelittenen Nichtregierungsorganisationen versuchten, die Veranstaltung gegen den Strich zu bürsten, schienen sich aber in ihrem eigenen Forum offenbar so unter den Druck einer wissenschaftlich gewandeten Darstellung gestellt, daß zwar der Beweis für die Analysefähigkeit auch der Underdogs geliefert werden konnte, aber Austausch über konzeptionelle Ansätze und deren kommunikative Weiterentwicklung ebenfalls zu kurz kommen mußten. In der Presse wurden die Überlegungen der NGOs denn auch als „Sozialromantik“ diffamiert.

Insbesondere der vorbereitende „Weltbericht“ von Peter Hall und Ulrich Pfeiffer, der die Hintergrundlinie und politische Stoßrichtung des Spektakels bildet, wurde zum Gegenstand intensiver Kontroversen am Rand der Konferenz, verlor indessen seine leitbildhafte Faszination angesichts der optimistischen Versprechen auf eine bessere Zukunft selbst in der Fachwelt nicht. Dies mag neben u.a. daran liegen, daß die Fundierung seiner Inhalte bisher kaum Verbreitung gefunden hat. In diesem Sinne soll es diesem Beitrag u.a. darum gehen, die Basis der dort gezogenen Schlußfolgerungen auf ihre Plausibilität zu untersuchen. Dabei ist zwangsläufig die Leitformel der „good governance“ auf den Prüfstand zu stellen. Während bereits einige aufschlußreiche Analysen dazu vorliegen (Redaktion des MieterEcho 2000, insbesondere die Beiträge von Ulrich Brand, John Friedmann, Marlene Zlonicky und Bob Jessop), soll hier den Aussagen des Berichts etwas stärker unter einem entwicklungspolitischen Gesichtspunkt nachgegangen werden, also die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Handlungsempfehlungen heute für Stadtpolitik überhaupt zu erwarten sind, ein Bereich, auf dem die oben erwähnten Analysen nur wenige Hinweise bieten. Über diesen Einblick in den Weltbericht selbst hinaus erscheint es aufschlußreich, maßgeblichen Akteuren der Konferenz und ihrem Handeln nachzuspüren. Nachdem Urban 21 stark von der Initiative der vier Staaten Deutschland, Brasilien, Singapur und Südafrika getragen wird und mit geradezu befremdlicher Euphorie das Entwicklungsmodell Singapurs als Vorbild in die Welt gesetzt wurde, soll dieses stellvertretend untersucht werden. Dabei wird auch auf die Abschlußerklärung der Konferenz kurz einzugehen sein, zumal der Singapurer Sonderbotschafter Tommy Koh dem Redaktionsgremium vorstand, das die im Laufe der Konferenz zum Resolutionsentwurf eingehenden Änderungsvorschläge prüfte und einarbeitete.

Um der Vielfalt in der Praxis verfolgter Ansätze und ihrer Möglichkeiten und Grenzen gerecht zu werden, folgen schließlich Interviews mit Konferenzteilnehmern, die ihre eigene Rolle im Rahmen von Urban 21 darstellen und andere Perspektiven aufzeigen. Zu ihnen zählen Jeb Brugmann, der scheidende Generalsekretär von ICLEI, einem Zusammenschluß von mehreren Hundert Städten auf der ganzen Welt, die sich der Entwicklung lokaler Gegenstrategien gegen globale Umweltprobleme verschrieben haben, der Planungsdirektor der Bronx, Bernd Zimmermann, der durch den Versuch einer Wiederherstellung des ramponierten Selbstwertgefühls im New Yorker Stadtbezirk bekannt geworden ist, sowie Kirtee Shah, der Generalsekretär der Habitat International Coalition, einem großen NGO-Dachverband für Wohnungsfragen.

1.   Das Credo von der politikfreien „good governance“ - Quadratur des Kreises für die Städte der Welt?

Der Weltbericht zur Zukunft der Städte bietet eine aufschlußreiche Ansammlung von Einzelbausteinen, die das Konzept der „good governance“ verdeutlichen und schmackhaft machen sollen. An dieser Stelle soll auf eine Diskussion der methodischen Frage verzichtet werden, ob die Typisierung sämtlicher Städte der Welt in entwickelt-alternd, dynamisch-wachsend und übermäßig-wachsend legitim ist - die Antwort hängt von der Perspektive ab, ist aber hier verzichtbar. Weiterhin soll darauf hingewiesen werden, daß die Betrachtung einer Stadt als ein Akteur - im Sinne des umstrittenen Konzepts des „city unitary interest“ (Peterson 1981) - eine unzulässige Verkürzung darstellt und ein weiteres Mal die apolitische Natur des Berichts offenbart. Für nähere Ausführungen bieten vorliegende Papiere (Redaktion des MieterEcho 2000) vielfältige Anregungen.

Die zentralen Defizite des Weltberichts liegen in seiner konstatierenden Verkürzung, seiner additiven Aneinanderreihung und seiner weitgehend apolitischen Herangehensweise. Daß er in vielen Feldern lediglich den Stand der Fachwelt wiedergibt und damit kaum neue Perspektiven bietet, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, sind doch die Autoren ihrerseits nur ein Sprachrohr der Fachwelt und nicht allwissende Heilige oder ein mit unumschränktem Forschungsbudget ausgestatteter Riesenapparat. Umso mehr schmerzt es, wenn eine aufrichtige Integration der einzelnen Bausteine nur unzureichend vorgenommen wird. Ausdruck hiervon ist das Schaubild IV.1, das die Prinzipien von good governance verdeutlichen soll, in seiner Naivität jedoch bereits umfangreichen Anlaß zu Spott geboten hat (Weltbericht, S. 155). Um die Problematik deutlich zu machen, ist im folgenden kurz auf die Inhalte der Originalfassung einzugehen, die wesentlich umfangreicher als die in ihrer strategischen Verknappung schon beinahe als Beleidigung der Fachwelt zu erachtende deutsche Kurzfassung ist.

Als grundsätzliche Prinzipien städtischer governance nennt der Bericht im wesentlichen Nachhaltigkeit, Subsidiarität, Solidarität, Marktorientierung und Partnerschaften sowie Dezentralisierung. Bereits in den grundlegenden Ausführungen dazu wird deutlich, daß die Stoßrichtung des Berichts von Optimismus und Technikhoffnung geprägt ist: „Economic and social goals used often to be seen as quite separate, but can be reconciled through the pursuit of more efficient production coupled with targeted initiatives to alleviate poverty. ... Thus, in recent years it has become possible to see economic development, equity and environmental protection as aspects of the same task.“ (Ebd., S. 154f) Wenngleich diese Behauptungen unmittelbarem Widerspruch reizen und die apolitische Natur des Berichts entlarven, erscheint dessen Hinweis auf die Bedeutung von Marktkräften wertvoll: „But urban policies do best when they work with market forces, not against them. That does not mean that policy just has to accept market forces as given: the essence is to understand how far they can be bent and influenced to achieve defined policy ends.“ (Ebd., S. 158). Die Handschrift von Ulrich Pfeiffer ist deutlich erkennbar, dessen unermüdliche Warnung vor übergroßen Steuerungsansprüchen der öffentlichen Hand zwar nicht vernachlässigt werden sollte, dessen prognostisches Wirken insbesondere im Berlin der 1990er Jahre allerdings offenbart hat, daß nüchterne Weltsicht allein noch kein Qualifikationskriterium für die Beratung der Stadtentwicklungspolitik darstellt. Dennoch ist die Ausdehnung des partnerschaftlichen Ansatzes von Stadtpolitik auf einen Einschluß der Zivilgesellschaft, von Nachbarschafts- und Selbsthilfegruppen, von NGOs usw., die der Weltbericht empfiehlt, anerkennenswert (Ebd., S. 158, S. 162). Auch die Priorität, die Erziehung und Ausbildung gegeben wird, erscheint zunächst sinnvoll, wird allerdings nur begrenzt operationalisierbar gemacht.

Noch vor der Betrachtung wichtiger Aufgabenstellungen der Stadtpolitik wendet sich der Bericht detailliert dem Problem des „Urban Management“ zu (Ebd., S. 184ff). Schon der Stellenwert des Themas verweist auf die Ansatzpunkte, die der Bericht für Veränderung sieht, doch nennt er - ohne weitere Begründung - Privatisierung, Wettbewerbsorientierung, Partizipation, Transparenz und Kundenorientierung als die „most important trends in urban management during the last twenty years“, um daraus unmittelbar und ohne Eingehen auf mögliche Folgewirkungen auf Privatisierungs- und Wettbewerbsempfehlungen einzugehen (Ebd.). Interessant erscheint dabei im wesentlichen die Hoffnung darauf, daß die Stadtpolitik, einmal entlastet von zahlreichen (privatisierten) Managementaufgaben, ihr Augenmerk stärker auf die Suche nach weiteren Innovationspotentialen und die Mobilisierung der Zivilgesellschaft legen kann (Ebd., S. 188). Im Blick auf die ärmsten Städte wird deutlich, daß auch die Autoren des Weltberichts keine allgemeingültigen Rezepte geben können und wollen, nicht einmal hinsichtlich der Privatisierung öffentlicher Aufgaben (Ebd., S. 189). Umso kritischer ist die verkürzende Vermarktung des Berichts in seiner deutschen Fassung und in der Weltkonferenz einzuschätzen. Während der Bericht wohl zu Recht die Verbreitung von Innovation als zentrale Aufgabenstellung der Stadtpolitik ansieht, bleiben seine Empfehlungen dazu noch äußerst dürftig (Ebd., S. 193).

Wichtige sektorale Aufgabenstellungen der Stadtentwicklungspolitik, denen sich der Bericht eingehend widmet, sind die Umweltproblematik, die Wirtschaftspolitik, die Sozialstruktur, Wohnen, Infrastruktur, Verkehr sowie Stadtbild und öffentlicher Raum. Die Ausführungen zur Umweltproblematik orientieren sich stark an der plakativen Formel des „Faktor Vier“, tragen ansonsten aber wenig zur Neuausrichtung der Stadtentwicklungspolitik bei. Warum gerade Städte besonders gut in der Lage sein sollen, „to prepare the ground for an ecological restructuring of the built environment“, und gerade deren Strategien geeignet sein können, „to mobilize resources to fulfil basic environmental needs; change people’s behaviour; increase efficiency in order to secure environmental progress at the lowest possible cost“ (Ebd., S. 195), ist nur vor dem Hintergrund von Initiativen wie ICLEI zu verstehen (vgl. dazu das untenstehende Interview), die bisweilen gegen die Schwerfälligkeit von nationalstaatlicher Politik aktiv werden. Inwieweit sich deren Erfahrungen auf Städte übertragen lassen, in denen sich aus den verschiedensten Gründen keine ähnliche Bewegung formiert, bleibt völlig unbeantwortet, so daß die Ausführungen des Berichts lediglich bei schönem Wetter auf der sanften Woge des allgemeinen weltweiten Umweltbewußtseins surfen, aber einen eigentlichen Problembezug schuldig bleiben. Gerade die aktuelle deutsche Diskussion zeigt, mit welchen politischen Durchsetzungsproblemen die von Fachleuten kaum bestrittene und im Weltbericht wieder aufgekochte Notwendigkeit einer Ökosteuer behaftet ist. Formulierungen wie „In the twenty-first century we shall need a more enlightened policy which does not create the illusion of cheap energy or cheap transportation“ (Ebd., S. 201) erscheinen bei der ansonsten im Bericht mit großem Pathos verbreiteten Weisheit des Marktmechanismus und der gängigen ökonomischen Theorie geradezu öko-romantisch. Die im Bericht gemachten Vorschläge sind nicht neu, ja zuweilen kleiden sie Ziele in Maßnahmen, was einen Anfängerfehler konzeptionellen Denkens darstellt.

Der Bericht singt in seinen folgenden Ausführungen zur Wirtschaftspolitik das Hohelied der weichen Standortfaktoren, und stellt eine seiner fragwürdigsten Behauptungen auf: Wenn nur alle Städte sich gleichermaßen anstrengen, erhält jeder einen ordentlichen Teil vom Wohlstandskuchen. Dies ist entweder tautologisch (viel Arbeit - viel Einkommen) oder blendet internationale Konkurrenz um mobiles Kapital aus: „Developing cities can use their readiness to work hard, and their cheap labour and their growing markets as instruments to attract a greater share of international capital. Developed cities will be forced to overcome their rigid attitudes or vested interests steming from decades of successful development. Feeding each others’ growth provesses through competition will be the best strategy in overcoming inertia or shortages of capital and know-how.“ (Ebd., S. 207). Das Gemeingut der wirtschaftspolitischen Debatte schließt sich an, wie lebenslanges Lernen und die Bereitstellung von Land und Infrastruktur. Geradezu kapital-romantisch wird er, wenn er dabei die Einbindung von Developern in die Unterstützung von Selbsthilfegruppen über Linkages fordert, eine Strategie, deren Durchsetzbarkeit wiederum erheblich vom politischen Umfeld abhängt (Swanstrom 1985, Dreier/Ehrlich 1991). Das Bekenntnis zum informellen Sektor und zum Stellenwert von Produktion ist zwar anerkennenswert, doch ergibt sich zusammen mit der Anpreisung von fragwürdigen und auf Steuererleichterungen ausgerichteten Projekten wie den Londoner Docklands, deren problematische Wirkungen für die städtische Ökonomie und die Lokalpolitik überdies kaum zureichend zur Kenntnis genommen werden, ein manifester Widerspruch zur weiter oben vorgeschlagenen Linkage-Politik. Mit einem Plädoyer für eine Integration der Banken in die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Gemeinden werden diese gerade im Strukturwandel in budgetäre Krisen getrieben, deren Analyse Heerscharen von Wissenschaftlern beschäftigt haben, ohne daß dabei Rezepte ausfindig gemacht worden wären, den Strukturwandel aus eigener Kraft halbwegs sozialverträglich abzufedern.

Aussagen zu Strategien hinsichtlich des sozialstrukturellen Wandels selbst sind dazu angetan, die trockene Botschaft des Weltberichts in Watte zu verpacken: „The instruments range from low-priced kindergartens, flexible opening hours of public and private services, to special vacation days for mothers, and incentives for private companies to hire more mothers.“ (Weltbericht, S. 220) Betrachtet man die Ausführungen gerade zu den ärmeren Städten näher, gehen die Vorschläge zu Erziehung und Ausbildung bei allem Charme nicht über den state of art hinaus und verkennen die Problematik des brain drain weitgehend. Wirtschaftsstrukturelle Rahmenbedingungen bleiben ausgeblendet, doch was schwerer wiegt, ist die Ansammlung von Wunschträumen, die ohne eine konzeptionelle Antwort auf die Problematik lokaler Haushaltspolitik vorgestellt wird.

Der Bereich Wohnungsversorgung ist durchzogen von einem eindeutigen Plädoyer für die privatwirtschaftlich gesteuerte Mietwohnungsversorgung, die von Deregulierung im Planungssystem und der Bereitstellung von preiswertem Bauland flankiert werden soll. Zwar ist sich der Bericht des siedlungsstrukturellen Grunddilemmas der Nachhaltigkeitsdebatte bewußt, daß preiswertes Bauland tendenziell flächenfressend wirkt, doch sind seine auf die sozial Benachteiligten ausgerichteten Empfehlungen zu Wohnungsbaukrediten, informeller Planung, Anpassung an Bedürfnisse und finanzielle Leistungsfähigkeit der ärmeren Bevölkerungsschichten usw. durchaus zwiespältig. Sie verdienen Beachtung wegen ihrer direkten Wirkung auf die Wohnungsversorgung und den Versuch, negative Erfahrungen mit dem sozialen Wohnungsbau westlicher Nachkriegsprägung zu integrieren und zu überwinden. Die schablonenhafte und unhinterfragte Empfehlung von Instrumenten wie völlig freie Mietpreisgestaltung und zeitlich befristete Mietverträge (Ebd., S. 237) lassen allerdings ein konsistentes bedürfnisorientiertes Wohnungsversorgungsprogramm trotz anderslautender Bekundungen erfahrungsgemäß kaum zu. Der verkürzte Blick auf die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus, der in der Zwischenkriegszeit trotz seiner de facto auf den Mittelstand ausgerichteten Produktion eine Erfolgsgeschichte darstellt, erlaubt dem Bericht fragwürdige Schlußfolgerungen: „Balanced social housing is a commodity extremely hard to produce. In ist place, better-functioning markets will widen choice, increase opportunities and reduce costs and rent levels. This is true for all kinds of cities. In developed cities, efficient market for lower-income households will probably be more successful than social housing. In developing cities more efficient informal markets, properly assisted and combined with upgrading efforts, and mobilizing a maximum of self-help, will probably create the highest benefits for citizens with below-average incomes.“ (Ebd., S. 243)

Auch im Themenfeld Infrastruktur werden Privatisierungsmaßnahmen vorgeschlagen, insbesondere vertragliche Regelungen wie BOT-Lösungen (Build-Operate-Transfer), bei denen Investoren die Infrastruktur errichten und für einen gewissen Zeitraum betreiben, nachdem die Einrichtung an die Gemeinde fällt. Die Nutzung der UN Best Practice Database scheint hier vielversprechend für den Transfer innovativer Lösungsansätze, doch sind Einschränkungen insbesondere dann angebracht, wenn privatwirtschaftliche Investitionen aufgrund des ungünstigen Investitionsklimas gar nicht zu erwarten sind. Hiervon kündet das Beispiel Liverpools im wirtschaftlichen Strukturwandel überdeutlich, wo privatwirtschaftliche Versuche einer Wiederbelebung niedergehender Quartiere kläglich scheiterten (Meegan 1990).

Ausführlich widmet sich der Weltbericht dem Thema Verkehr. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß laut Bericht bei einer Kopplung der Verkehrspolitik und der räumlichen Stadtentwicklungspolitik kurz- bis mittelfristig das Wachstum des städtischen Verkehrs über steuerliche und räumliche Restriktionsmaßnahmen sowie einer Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs gehemmt werden sollte, während langfristig über technologische Innovationen eine Möglichkeit für die Einführung von „Öko-Autos“ gesehen wird. Dieses vergröberte Szenario mit all seinen Differenzierungen, das im Bericht unter Berücksichtigung des derzeitigen Stands der Verkehrspolitik und -technik gezeichnet wird, bleibt wie andere Maßnahmenbündel eine budgetäre Gesamtbilanz schuldig, wendet sich aber endlich dem Problemkreis der politischen Durchsetzbarkeit zu. Die vielversprechenden Ergebnisse beispielsweise aus Curitiba und Singapur, die vorgeführt werden, dürften aufgrund ihrer Anschaulichkeit und der hohen Priorität städtischer Verkehrspolitik wohl tatsächlich inspirierende Wirkung haben. Bis zu ihrer Übertragung oder Anpassung auf einen breiten Anteil wachsender Städte wird es aber ein weiter Weg sein, für den der Bericht kaum Hilfestellungen anbietet. Den positiven Beispielen des Berichts ließen sich spielend die Überlastungserscheinungen chaotischer Metropolen wie Rio de Janeiro, Kairo oder Teheran an die Seite stellen, wo trotz jahrzehntelanger Bemühungen keine wirklich spürbaren Verbesserungen erzielt werden konnten. Der Verweis auf good governance allein wird hier nicht ausreichen, um tatsächlich schlechte governance zu überwinden.

Abschließend zeichnet der Bericht eine abgewogene und vorsichtige Diskussion über Gestaltung und öffentlichen Raum, die in eine bescheidene Liste von Zielen mündet, die planerisches Gemeingut sein dürften (Ebd., S. 293). Daran anschließend das simple Zahlenwerk der Londoner Docklands, in die Millionenbeträge an öffentlichen Subventionen geflossen sind, als Kronzeugen erfolgreicher Innenentwicklung zu verkaufen, schmerzt und entwertet die vornehme Zurückhaltung der vorangehenden Seiten geradezu.

Die Fülle von Beispielen, die im Bericht aneinandergereiht werden, ist sicherlich aufschlußreich. Es bleibt nach der Durchsicht der behandelten Problemfelder dennoch der Eindruck bestehen, der Impetus für einen privatwirtschaftlichen Umbau der Stadtentwicklungspolitik solle lediglich durch die positiven Beispiele bemäntelt werden. Es ist deutlich gemacht worden, daß die Möglichkeiten einer Stadt, die vorgeschlagenen Maßnahmen - so sie denn überhaupt über die Formulierung von Zielen hinausgehen - zu verfolgen, von ihrer budgetären Situation abhängen wird. Hier deuten aber die angemahnten Einnahmenkürzungen über Steuererleichterungen usw. in eine andere Richtung als die Versprechungen der Best-Practice-Beispiele auf Ausgabenreduzierungen, so daß eine abschließende Beurteilung der empfohlenen Strategien gar nicht möglich ist. Daß der Pfad der Deregulierung den Königsweg darstellen soll, muß angesichts dieser Defizite des Berichts umso mehr angezweifelt werden, als er auf Konsistenz der Stadtpolitik angewiesen ist, eine Forderung, die angesichts der einschneidenden Auswirkungen seiner Empfehlungen auf Teile der Stadtbevölkerung im politischen Alltagsgeschäft nur mit großen Anstrengungen durchsetzbar sein wird. Mangelnde Konsistenz war bereits ein Sargnagel für den sozialistischen Entwicklungspfad - fehlende Anreizsysteme für die noch nicht so „Neuen Menschen“ verhinderten ein hinreichendes Maß an Innovation und fuhren das System in der Energiekrise auf Substanz. Empfiehlt der Weltbericht der Stadtbevölkerung schon zu Recht lebenslanges Lernen, sollte er nicht davor Halt machen, auch die Stadtpolitik stärker im Sinne evolutionärer Veränderungen weiterzuentwickeln. Nach der großen Verschuldungskrise des ausgehenden 20. Jahrhunderts in den westlichen Industrieländern scheint die Privatisierung öffentlicher Leistungen zum Zwecke der Haushaltssanierung verführerisch. Die Entstehung neuer Abhängigkeitskreisläufe durch Austeritätspolitik mußte auf der Ebene der Gesamtstaaten infolge der IWF-Strukturanpassungsprogramme mit erschreckenden Auswirkungen zur Kenntnis genommen werden. Zwischen diesen beiden Polen dürften die zu erwartenden Folgen der vorgeschlagenen Maßnahmen des Weltberichts liegen.

Es wäre unverantwortlich, wenn der radikale Umbau der Stadtpolitik keine Möglichkeit der Korrektur in sich bärge. Die Entstehung neuer Sachzwänge und Abhängigkeiten bei stringenter Umsetzung eines neoliberalen Umbaukurses kann nicht ausgeschlossen werden. Die Städte sollten deshalb in ihrem Versuch, good governance zur Maxime ihres Handelns zu machen, gerade hinsichtlich der Reversibilität und Weiterentwicklungsfähigkeit ihrer Strategien äußerst wachsam bleiben und eher eine Vielfalt einzelner Teilstrategien kombinieren, die sich erst mittelfristig zu einem Bündel erfolgreicher und fortführbarer Maßnahmen sortieren werden.

2.   Der wirtschaftliche Aufstieg Singapurs - überall wiederholbares Vorbild von „good governance“?

Betrachtet man die entwicklungspolitischen Ausgangsbedingungen Singapurs, so steht die herausragende Lage der bereits im 13. Jahrhundert bedeutenden Hafenstadt im Mittelpunkt. Das seit 1965 unabhängige Land mit einer Fläche, die kaum der des deutschen Stadtstaats Hamburg entspricht, hat sich als Handels- und Bankenzentrum Südostasiens etablieren können und ein starkes Industrialisierungsprogramm durchlebt. Der wirtschaftliche Aufschwung ist dabei unbestritten und respektabel, so daß das Ländchen mit seiner diversifizierten Wirtschafts- und Außenhandelsstruktur eine äußerst geringe Arbeitslosigkeit von 2,5 %, ein jährliches Bruttosozialprodukt von um 30.000 US-$ pro Einwohner und einen Exportüberschuß verzeichnet. Die Erfolgsgeschichte Singapurs drückt sich ebenfalls in weichen Indikatoren wie der geringen Analphabetenrate von unter 10 %, dem gebremsten Bevölkerungswachstum und der hohen Lebenserwartung von 77 Jahren aus.

Diese Stellung als „Musterschüler“ der asiatischen Tigerstaaten ist allerdings ohne die strategische Rolle des Hafens wohl nicht denkbar gewesen. Verfügt Singapur Anfang der 1980er Jahre mit einem Güterumschlag von etwa 100 Mio. t bereits über einen der größten Hafen der Welt, kann es bis zum Ende der 1990er Jahre seinen Umschlag mehr als verdreifachen und setzt sich damit sogar noch vor Rotterdam an die internationale Spitze. Diese beispiellose Entwicklung soll in ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden. Ein Anteil der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor von etwa zwei Dritteln der Gesamtbeschäftigung spricht indessen eine deutliche Sprache: Der Stadtstaat stellt ein strategisches Zentrum der Weltwirtschaft dar, dessen Erfolg sich nicht in Timbuktu oder La Paz einfach wiederholen läßt. Ein Vergleich Singapurs mit den wirtschaftlichen Strategien anderer Staaten ist deshalb so verlockend, weil die gesamte Stadt und damit der Staat Singapur von den wirtschaftlichen Segnungen seiner Rolle in der internationalen Städtehierarchie profitiert. Er geht aber deswegen fehl, weil der Stadtstaat kein Hinterland mit ungünstigeren Ausgangsbedingungen besitzt, das sich statistisch niederschlagen könnte. Bereits ein Blick auf einen anderen Austragungsstaat von Urban 21, Brasilien, mit seinem in die Weltwirtschaft integrierten Raum um Saõ Paulo, der einen wesentlichen Anteil der gesamten Wirtschaftsleistung Brasiliens erbringt, und seiner Verelendung in der Peripherie, zeigt die methodische Fragwürdigkeit einer Ex-Post-Orientierung an den Erfolgreichen.

Betrachten wir nun den Weg Singapurs als Vorbild für „good governance“. Wäre der Weg dorthin derart politikfrei zu beschreiten, wie es Urban 21 implizit behauptet, dürften politische Konflikte in Singapur kein nennenswertes Problem für den Entwicklungspfad darstellen. Tatsächlich hat jedoch beispielsweise Chia Thye Poh, ehemaliger Abgeordneter der Opposition, den Zeitraum von 1966 bis 1989, also 23 Jahre, auf der Grundlage des Gesetzes zur Inneren Sicherheit ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis verbracht, und wurde danach weiterhin in seinem Recht auf Bewegungs- und Vereinigungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Die Haftstrafe steht im Zusammenhang mit dem Kampf der Regierung gegen die verbotene Communist Party of Malaya. Auch 1997 werden noch Oppositionsparteien wie die Arbeiterpartei durch Verleumdungskampagnen massiv in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. Prügel- und Todesstrafe sind in Singapur überdies weit verbreitet, und gewaltlose politische Gefangene sind weiterhin in Haft.

Selbstverständlich ist der wirtschaftliche Aufschwung Singapurs beachtlich, und es erscheint nur folgerichtig, daß der Singapurer Tommy Koh als einer der Drahtzieher im Hintergrund der Weltkonferenz die Entwürfe zur Abschlußerklärung so weiterentwickelte, daß zwar dank des Drucks von Nichtregierungsorganisationen aus ärmeren Ländern einige wichtige Ergänzungen in das zunächst unkritische Bild eingeflochten werden konnten, ohne den Grundtenor zu irgendeinem Zeitpunkt anzutasten. Dieser schlägt sich im Schlußabschnitt nieder, der da mit der Beschwörungsformel „We conclude on an optimistic note“ beginnt. Selbstverständlich wird „Entwicklung“ nur dann stattfinden, wenn auch der Glaube daran herrscht, überhaupt positive Veränderungen bewirken zu können. Die apolitische Verkürzung auf die technologische Machbarkeit von Problembewältigung erscheint nichtsdestoweniger angesichts der Konflikthaftigkeit von Politik, von Staatenzerfall in Kongo, Afghanistan und anderswo, von innerer Kolonisation peripherer Landesteile, bisweilen vordergründig ethnisch legitimiert, wie in Türkisch-Kurdistan, der Westbank oder West-Sahara, der Vermarktung humanitärer Hilfsgüter durch die über Machtressourcen verfügenden Eliten eines Landes usw. fragwürdig. Hier soll nicht etwa einer apokalyptischen Anti-Stimmung das Wort geredet werden, doch kann zur Überwindung der beschriebenen tiefgreifenden politischen Konfliktlagen nur eine aktive weltweite Strategie der Schaffung und Stabilisierung von Institutionen weiterhelfen, die über wirtschaftlich-technologische Instrumente hinausgeht. Die wirtschaftspolitische Predigt der Urban-21-Konferenz, die für jeden vermeintlichen Stadttypus eine Variante der Wettbewerbsorientierung anempfehlen möchte, ist insofern tautologisch, als urbane Probleme immer eine ökonomische Komponente haben - ohne Erwirtschaftung von wie auch immer gearteten Ressourcen kein Handlungsspielraum für Versorgung, Wohlstand usw. -, dies aber den Städten der Welt und ihren Bewohnern mit den unterschiedlichsten standortspezifischen Ausgangsbedingungen entweder ohnehin klar ist, aber mangels Möglichkeiten nur begrenzt nutzt, oder aber von ihnen im klientelistischen Konflikt nicht zu Gehör kommt, was durch Appelle hinsichtlich „gutem Regieren“ dessen Profiteure kaum dazu veranlassen wird, ihre Ressourcenzugänge aufzugeben. Wirtschaftswachstum vollzieht sich aufgrund der fortschreitenden technologischen Entwicklung ohnehin. Inwieweit es mittelfristig durch nicht nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen aufgezehrt werden wird, ist nicht abschließend zu beurteilen. Der ökonomistische Aufruf, sich dem internationalen Wettbewerb zu stellen, ist deshalb zwar nicht per se falsch, doch gibt er Ziele (Wohlstandsmehrung usw.) für Strategien aus.

So hallt im Ohr der Fachwelt wohl die Botschaft von „Best Practice“ und internationaler wie nationalem Know-how-Transfer am intensivsten nach. Aus der Dokumentation bewährter und erfolgversprechender Ansätze läßt sich wohl durchaus ein Satz von Handlungsempfehlungen generieren, der Städten verschiedensten Typs nützen könnte. Die Formel von „good governance“ ist indessen bisher nicht zuletzt aufgrund mangelnder Integration teilweise konfligierender Ansprüche hohl geblieben. Für die entwicklungspolitische Debatte gilt es daher wohl viel eher, evolutionär und mit kleinen Schritten - man ist geneigt, das planerische Wort vom „perspektivischen Inkrementalismus“ (Ganser) zu benutzen - zu prüfen, inwiefern sich die Lebensbedingungen in Städten durch die Anpassung und Weiterentwicklung anderswo bewährter Strategien oder durch deren Nutzung als Ansporn zu eigenen stadtentwicklungspolitischen Innovationen verbessern lassen. Notwendigerweise werden die dabei eingeschlagenen Pfade vielfältig sein, was selbst die Autoren des Weltberichts eingestehen. Dies stellt allerdings die Einschwörung auf ein relativ einheitliches Entwicklungsmodell von weitgehender - wenn auch nicht vollständiger - Entstaatlichung und Privatisierung insbesondere dahingehend in Frage, als jede stadtentwicklungspolitische Innovation auf ihre Rückwirkungen für die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand zu prüfen ist, insbesondere wenn sie deren Verfügbarkeit von Ressourcen beeinflußt. Das im Weltbericht und der Weltkonferenz verkündete Credo der Entstaatlichung bietet also für den Einzelfall keine Entscheidungshilfen etwa nach dem Motto „unsere Stadtpolitik weist noch zu wenige privatwirtschaftliche Lösungen auf, also wird eine erste Privatisierung schon nicht falsch sein“. Damit bleibt es aber inhaltsleer und kann lediglich als schlichter Hinweis dienen, die Erfahrungen mit privatwirtschaftlichen Lösungen nicht aus ideologischen Gründen zu verwerfen. Angesichts der weithin unbeantworteten Frage nach den politischen Mechanismen auf dem Wege zu „good governance“ ist dies eine magere Bilanz.

3.   Literatur

Vgl. auch:
http://www.urban21.de

amnesty international: „Jahresbericht“, verschiedene Ausgaben, Frankfurt/Main

Mario von Baratta (Hrsg.): „Der Fischer Weltalmanach“, verschiedene Ausgaben, Frankfurt/Main

Peter Dreier / Bruce Ehrlich: „Downtown Development and Urban Reform. The Politics of Boston’s Linkage Policy“, in: Urban Affairs Quarterly, Vol. 26, No. 3, März 1991, S. 354-375

Richard Meegan: „Merseyside in Crisis and Conflict“, in: Michael Harloe, Chris Pickvance, John Urry (Hrsg.): Place, Policy and Politics, London 1990, S. 87-107

Paul E. Peterson: „City Limits“, Chicago 1981

Redaktion des MieterEcho (Hrsg.): „Und die Welt wird zur Scheibe ...“. Reader zum Weltbericht (Für die Zukunft der Städte - URBAN 21), Berlin 2000

Todd Swanstrom: „The Crisis of Growth Politics“, Philadelphia 1985

Weltkommission „Urban 21“ 2000 (Hrsg.): „Weltbericht für die Zukunft der Städte - Urban 21“, zu finden unter http://www.urban21.de, 2000

4.     Interviews

„Erfahrungen fließen auch von Süden nach Norden“
Gespräch mit Jeb Brugmann
http://www.iclei.org

 Planungsrundschau:
Könnten Sie die Ziele und den Aufbau der Organisation ICLEI, die Sie vertreten, etwas näher darstellen?

Brugmann:
Ich möchte zunächst deutlich machen, daß wir eine internationale Vereinigung von Städten sind, was einen kleinen Unterschied zu einem Netzwerk darstellt. Es gibt viele Städtenetzwerke, Arbeitsgruppen von Städten, die sich ein bestimmten Ziel stecken, sich zu diesem Zweck treffen und Informationsaustauch betreiben. Die Mitglieder von ICLEI herrschen tatsächlich über die Vereinigung. Wir sind also eine demokratische Organisation, die sich von ihrer Natur her gar nicht so sehr beispielsweise vom „Deutschen Städtetag“ unterscheidet. Auf internationaler Ebene gibt es einige Städtenetzwerke, die z.B. von den Vereinten Nationen finanziert werden, aber nicht demokratisch sind, und letztlich die Interessen derer verfolgen, die sie ins Leben gerufen haben - beispielsweise der Nationalstaaten. Wenn ich bei ICLEI von Städten spreche, muß ich sagen, daß es sich einerseits um große Ballungsräume wie Tokio und New York City oder Berlin handelt, große städtische Ökonomien, die im Beispiel von Japan die Wirtschaftsleistung der gesamten Niederlanden erreichen, aber andererseits das ganze Spektrum bis hinunter zu Kleinstädten in Nordnorwegen, dem US-amerikanischen Mittelwesten oder dem peruanischen Bergland enthalten ist, wobei man hier beinahe schon von dörflichen Gemeinden sprechen könnte - also von ganz unterschiedlichen Städten. Unser Ziel ist sehr ungewöhnlich, nämlich die Erzielung spürbarer Verbesserungen in der globalen Umweltsituation und bei der nachhaltigen Entwicklung durch eine kumulative Wirkung lokaler Aktivitäten. Wir versuchen also zunächst, unsere Mitglieder dazu zu bringen, sich auf dem Feld der globalen Umweltproblematik und der nachhaltigen Entwicklung politische Ziele und Strategien zu formulieren, daraufhin in gegenseitiger Abstimmung Maßnahmen zu ergreifen, um diese Strategien umzusetzen und schließlich die Wirkungen all dieser lokalen Initiativen auf globaler Ebene zu evaluieren und herauszufinden, ob wir auf diese Weise auf der globalen Ebene wirklich spürbare Effekte erzielen können. Das erste Thema, dem sich ICLEI nach seiner Gründung in den späten 1980er Jahren gewidmet hat, war die Verringerung des Ozongehalts in der Stratosphäre. Bei dieser Initiative, die in Nordamerika gestartet wurde - wo ein großer Anteil der chlorierten Kohlenwasserstoffe emittiert wird -, hatten einige wenige Städte einen so hohen Anteil an Luftfahrt- und Elektronikindustrie, daß sie alleine einen spürbaren Beitrag zu dem Problem leisten hätten können. Eine Stadt, Irvine in Kalifornien mit einer Einwohnerzahl von etwa 100.000, hatte alleine einen Anteil von etwa 1/400 an den globalen Emissionen von eines wichtigen chlorierten Kohlenwasserstoffs. Und in nur einem Jahr konnten die Emissionen dort um 49% reduziert werden. Mit diesem ersten Erfolg hatten wir einen Beweis dafür, daß sogar relativ kleine Gemeinden manchmal alleine spürbare globale Effekte auslösen können. Unser nächster Schritt war, Städte dazu zu bringen, die Veränderung des Weltklimas zu einem ihrer Politikfelder zu machen. In den frühen 1990er Jahren war das ziemlich umstritten, und Organisationen wie der „Deutsche Städtetag“ dachten, daß ICLEI ein bißchen naiv ist zu glauben, daß Städte überhaupt irgendein Interesse an Klimaveränderungen haben. Wie man heute weiß, ist es inzwischen ziemlich gängig und beliebt, daß Städte sich auch um das Klima kümmern. Diese Beispiele umreißen ein wenig die internationale Rolle von ICLEI. Unsere Absicht ist, Städte und Gemeinden dazu zu bringen, in nicht so traditionelle Politikfeldern Verantwortung zu übernehmen und auf diese Weise in der lokalen Gemeinschaft eine Führungsrolle einzunehmen. Einer der Verdienste von ICLEI ist die Klimaschutzkampagne, die mehr als 300 Städte, Gemeinden und Kreise in der ganzen Welt mobilisiert hat, Zielwerte für eine spürbare Reduzierung der CO2-Emissionen zu formulieren. Heute beteiligen sich die ganzen nationalen Verbände und viele Städtenetzwerke an der Aktivitäten zur Verminderung des Treibhauseffekts. Eine weitere Initiative, die wir ebenfalls in den frühen 1990er Jahren starteten - sogar noch vor Rio 1992 - war, die Städte dazu zu bringen, sich zur Umsetzung der auf dem Rio-Gipfel entstehenden Agenda zu verpflichten. Wir brachten die Regierung, die sich in Rio trafen, dazu, das Kapitel 28 der Agenda 21 zu beschließen, was den Grundstein für das legte, was wir heute unter dem Begriff „Lokale Agenda“ kennen. Wiederum nahm ICLEI hier eine Führungsrolle ein. Wir entwickelten die Standards für Lokalen Agenden, und in den folgenden Jahren übernahmen nationale Städteverbände und einzelne Städte die „Lokale Agenda“ in ihre eigene Politik. Heute sind mehr als 3.000 Gemeinden in mehr als 70 Ländern an der Entwicklung von lokalen Agenden beteiligt. Ein ungewöhnliches Merkmal von ICLEI ist also, daß es Städte dazu bringt, sich Themen ernsthaft zuzuwenden, die eigentlich gar nicht primär „lokale“ Bedeutung haben. Dazu müssen eine Reihe von Eingriffen erfolgen. Zunächst muß die jeweilige Stadt natürlich ihre politischen Ziele verändern. Dann müssen die Politiker und die Beschäftigten in der Stadtverwaltung geschult werden, damit sie in der Lage sind, die politische Strategie und die Möglichkeiten ihrer Umsetzung zu verstehen. Schließlich müssen Projekte auf der Durchführungsebene und durchgeführt werden, um die Methoden und Standards der Reduzierung zu entwickeln. Beispielsweise haben wir im Klimabereich ein dreijähriges Forschungsprojekt organisiert, an dem 14 Städte in drei Kontinenten beteiligt waren, und die dabei selbst die Instrumente entwickelt haben, um Strategien zur Reduzierung von Treibhausgasen anwenden zu können. Dazu gehört ein Softwareprogramm, mit dem die Städte weltweit ihre Emissionen erst einmal auf standardisierte Weise feststellen und Szenarien dahingehend entwickeln können, welche Maßnahmen welche Reduzierungspotentiale bringen würden. Die Entwicklung dieser Instrumente ist unverzichtbar. Um schließlich Erfolge erzielen zu können, müssen die Nationalstaaten und die internationale Gemeinschaft dazu gebracht werden, die Städte hierbei als einen legitimen Akteur zu betrachten. Auf dieser Ebene stellt ICLEI die Stimme der Gemeinden in der internationalen Gemeinschaft, um die UN-Vereinbarungen in nationale Politik zu übersetzen und mit ihr abzustimmen. Zu guter Letzt sind politische Strategien natürlich gut, aber man muß sie auch umsetzen, und da müssen die Gemeinden, die wir kennen, sich häufig an den privaten Sektor wenden. Deshalb muß ICLEI sich mit Ingenieuren und Versorgungsunternehmen auseinandersetzen, um sie dazu zu bringen, ebenfalls die gemeindliche Politik zu unterstützen. Dies macht uns manchmal zum Berater, der zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor Vermittlungsaufgaben wahrnimmt, um die notwendigen Technologien für die Gemeinden verfügbar zu machen. Wir arbeiten also auf all diesen Ebenen, von der Graswurzelebene in Afrika bis hin zur Vertretung von Städten und Gemeinden im Zusammenhang mit der Politik der Vereinten Nationen.

Planungsrundschau:
Wie gehen Sie dabei mit der großen Verschiedenheit der beteiligten Städte hinsichtlich rechtlicher Rahmenbedingungen, der Rolle von „privat“ und „öffentlich“, dem Entwicklungsstand usw. um, wo Ihre Zentrale doch in Kanada angesiedelt ist? Beeinflußt das Ihre Problemwahrnehmung?

Brugmann:
Wenn man unsere Mitglieder ansieht, dann merkt man, daß der größte Teil aus Europa kommt, gefolgt von Asien und Nordamerika. Somit könnte man schon sagen, daß wir ein wenig eurozentristisch sind, obwohl unsere Zentrale als eine Art Gegengewicht hier in Toronto sitzt. In den letzten drei Jahren haben wir allerdings Anstrengungen unternommen, unsere Mitgliedschaft in den Entwicklungsländern auszudehnen. Unsere diesjährige Klimakampagne wurde zum Beispiel in Indien, Indonesien, den Philippinen, Mexiko und Afrika auf den Weg gebracht. Das sind unsere Bemühungen, eine wirklich globale Organisation zu werden. Hinsichtlich der Unterschiedlichkeit ist zu sagen, daß teilweise der Globalisierungsprozeß unsere Arbeit vereinfacht. Auf der politischen Ebene ergibt sich durch die Globalisierung natürlich eine Dezentralisierung. Man kann das insofern als positiv betrachten, als Macht auf die Ebene verlagert wird, die die jeweils anstehenden Aufgaben am besten erfüllen kann, also gewissermaßen das Subsidiaritätsprinzip verfolgt wird. Man kann Dezentralisierung auch kritisch sehen und darauf verweisen, daß Nationalstaaten sich ihrer Verantwortung für Aufgaben des öffentlichen Sektors entziehen, wenn sie Aufgaben an Gemeinden abgeben, die gar nicht über die Ressourcen verfügen, um sie zu erfüllen. Ich glaube, daß beide Seiten auf eine Weise Recht haben. Schauen Sie aber auf Gemeinden, sei es nun im peruanischen Gebirgsland, in Zimbabwe, Norwegen oder in den Vereinigten Staaten, stellen Sie fest, daß diese Aufgabenverlagerung nach unten, also die Dezentralisierung, ein verbreitetes Phänomen ist. Mithin gibt es auch gemeinsame Herausforderungen für die lokale Ebene gibt. Überdies bringt die Globalisierung einen tendenziellen Übergang von „Bürgergesellschaften“ zu „Konsumentengesellschaften“, die sich teilweise stärker mit privaten Unternehmen als mit Regierungen identifizieren, und die Menschen wenden sich in diesem Zusammenhang immer mehr an die Lokalpolitik, um wichtige Anliegen zu regeln. Wiederum sieht sich die Regierung in den 1990er Jahren mehr und mehr mit der Tatsache konfrontiert, daß die Bürger globale Fragen zu lokalen Themen machen. Das betrifft nicht nur das Klima, sondern beispielsweise auch Sweatshops in Vietnam, Kinderarbeit, multilaterale Vereinbarungen über Investitionen, und immer mehr wird dabei die Lokalpolitik von lokalen Organisationen angesprochen. ICLEI ist nun in der Lage, zwischen den Städten auf dieser Basis einen regen Erfahrungsaustausch zu gewährleisten, und dabei fließen die Erfahrungen nicht nur von Norden nach Süden, sondern gerade auch von Süden nach Norden. Eines unserer besten Beispiele ist die Stadt Porto Alegre in Brasilien, wo die Bürger in sehr ausgefeilter Weise an der Aufstellung des Kommunalhaushalts beteiligt werden. Wenn dann der von der Verwaltung fertiggestellte Haushaltsentwurf in den Stadtrat geht, hat dieser nur noch sehr geringen politischen Einfluß darauf, und obwohl er ihn formal zurückweisen könnte, führt die breite Unterstützung bis von der Graswurzelebene her dazu, daß er den Entwurf bestätigt. Davon können wir in Europa und Nordamerika lernen. Wir denken, daß wir sehr demokratisch und partizipativ sind, aber in gewisser Weise stellt unsere repräsentative Demokratie einen sehr traditionellen Weg dar. In den Entwicklungsländern werden teilweise stärker partizipative Modelle entwickelt. Was wir auf der globalen Ebene vorfinden, sind eine Reihe von Erfahrungen aus allen möglichen Richtungen, von denen wir lernen könnten. Einer der kreativsten Aspekte unserer Arbeit ist, daß wir diese Erfahrungen zusammentragen und daraus versuchen, kohärente Strategien zu entwickeln. Diese werden dann u.U. zu neuen Standards. Die Lokalen Agenden sind ein gutes Beispiel dafür. Wenn Sie die Methodik des Agenda-Prozesses ansehen, merken Sie, daß eine Reihe verschiedener politischer Traditionen dabei eine Rolle gespielt haben. Das waren Traditionen der Planung von Nachbarschaftsdiensten, der Umweltplanung oder aus der Stadtentwicklungsplanung. Die Gesamheit dieser Traditionen hat zur Weiterentwicklung unserer Modelle geführt, die in vielen vielen Ländern zur Anwendung kommen und an die Bedingungen vor Ort angepaßt werden. Wir versuchen also, einen gemeinsamen Nenner zu finden und haben daraus einen Leitfaden zur Durchführung von Agendaprozessen entwickelt.. Aber das ist noch keine vollständige Antwort auf Ihre Frage. Lokalregierungen versuchen, auf den Stand der gängigen Praxis zu kommen und von dort aus weitere eigene Innovationen hervorzubringen. Fünf Jahre danach sind wir dann ein ganz schönes Stück weiter. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und alle Details sind ziemlich kompliziert, wie Sie das in Ihrer Frage angedeutet haben. Es scheint nun so, daß unsere Programme und unsere Botschaft sehr zentralistisch wirken, wie sie hier global angewandt zu werden scheinen, aber in vielen Ländern der Welt zeigt sich, daß in der Durchführung eine große Vielfalt herrscht und dabei unsere Regionalbüros eine wichtige Rolle spielen.

Planungsrundschau:
Ich fand die Präsentation des Weltberichts ziemlich oberflächlich und zu stark auf Ziele konzentriert, ohne wirklich Strategien für ihre Durchsetzung zu benennen. Wie stehen Sie hierzu und welchen Beitrag könnte Ihre Organisation hier leisten?

Brugmann:
Ich war vom Verlauf der Konferenz nicht so überrascht und ich habe sie insgesamt als nicht so oberflächlich empfunden. Ich habe keine so großen Erwartungen gehabt, denn ich habe sie als das aufgefaßt, was sie eigentlich ist. Wenn man auf sie von einem intellektuellen Standpunkt aus sieht, dann muß man eingestehen, daß das Niveau des Berichts und des Austauschs höher war als bei manch anderer Konferenz. Die Konferenz war sehr stark auf die internationale Gemeinschaft ausgerichtet, nicht so sehr auf Leute, die sich mit dem Thema intensiv beschäftigen, eher eine Art allgemeine Einführung. Wofür die Konferenz gut ist: Sie bringt die internationale Gemeinschaft dazu, städtischen Problemen mehr Beachtung zu schenken, insbesondere angesichts dessen, daß 2002 die Rio-Konferenz zehn Jahre zurückliegt und weitere Konferenzen zum Thema bevorstehen. Tatsächlich gibt es eine Reformdebatte über die Kriterien, nach denen international agierende Finanzinstitutionen Mittel für Entwicklung zur Verfügung stellen, die durch die Konferenz gestärkt werden könnte. Für Sie mögen einige Fragestellungen selbstverständlich wirken, aber für viele Leute auf der hohen Ebene der Politik ist einiges davon neu. Wenn ich in New York bei den Vereinten Nationen mit nationalen Delegationen verhandle, merke ich, daß die meisten Delegationsmitglieder aus den Außenministerien stammen und somit eigentlich keine Erfahrung mit lokalen Problemstellungen haben. Nun, Sie haben nach ausgefeilten Strategien gefragt. Wenn wir mit Vertretern verschiedenster Städte sprechen und sie fragen, was sind eure wichtigsten Erkenntnisse und die größten Versäumnisse in den vergangenen Jahre, dann hört man immer wieder, wir haben eine ganze Reihe von innovativen Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, aber alle irgendwie ohne Bezug zueinander. Hätten wir uns mehr Gedanken gemacht, dann hätten wir schon am Anfang eine ausgefeilte Strategie entwickelt, die diese Maßnahmen so aufeinander abgestimmt hätten, daß wir mit einem bißchen mehr Aufwand weit größere Ergebnisse erreicht hätten. Was wir nun also tun, ist Städte in einer Region in Gruppen zusammenzubringen und voneinander lernen zu lassen, wie sie ausgefeiltere Strategien entwickeln können, über nachhaltigen Energieeinsatz, über nachhaltige Flächennutzung, überall, wo Ökologie, Ökonomie und soziale Belange zusammenspielen.

Planungsrundschau:
Sie haben in Ihrer Rede betont, daß Nachhaltigkeit auf der lokalen Ebene eine große Bedeutung hat. Wenn ich lokale Agenden ansehe, dann habe ich das Gefühl, daß hier sehr viel diskutiert wird, ohne auf der Durchführungsebene sehr innovativ zu sein. Was denken Sie?

Brugmann:
Ich stehe den Lokalen Agenden, wie sie in Europa erarbeitet werden, etwas kritisch gegenüber. Insofern stimme ich hier mit Ihnen überein. Die Agenda 21 enthält eine Reihe von guten Ideen für eine stärkere Integration von ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen. Aber im europäischen und australischen, in gewisser Hinsicht auch im nordamerikanischen Kontext haben die Umweltbewegungen dafür gesorgt, daß die ökologischen Fragen zu sehr im Vordergrund stehen und die ökonomischen und sozialen Fragen etwas vernachlässigt wurden. Ich glaube, die Agenden sind dort innovativ, wo die Menschen es sich nicht erlauben können, sich allein auf die ökologischen Fragen zu konzentrieren, sondern wo sie darauf angewiesen sind, daß durch die Agenda auch Arbeitsplätze geschaffen und ihre ganz grundlegenden Lebensverhältnisse verbessert werden. In der nördlichen Hemisphäre ist Nachhaltigkeit häufig einfach ein Codewort für die Berücksichtigung von Umweltproblemen. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise in Großbritannien die Rolle der sozialen Ausgrenzung stärker erkannt worden.

Planungsrundschau:
Der Weltbericht äußert sich ausführlich zu good governance. Das Konzept scheint wieder einmal ein neues Schlagwort zu sein, das es jedem erlaubt, Forderungen und Hoffnungen auf Veränderung innerhalb der Stadtpolitik darunter zu fassen. Was halten Sie von dem Konzept?

Brugmann:
Ich glaube, sie ignorieren es, weil es bei der Frage nach good governance eine Reihe politisch sehr kontroverser Fragen gibt, die sie hier auf der internationalen Ebene nicht thematisieren wollen, weil sie die Gemeinsamkeiten herausstellen wollen. Der Grund, warum ich es für wichtig halte, sich mit good governance zu beschäftigen, ist, daß durch die Globalisierung ein erheblicher Wandel der Rolle des öffentlichen Sektors stattfindet. Es gibt eine Reihe von Themen, bei denen daher das Verhältnis zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor neu bestimmt und eine Zusammenarbeit angestrebt werden sollte. Überdies sind die Nichtregierungsorganisationen inzwischen wichtige Leistungsanbieter. Was in diesem Zusammenhang allerdings intensiv diskutiert werden muß, ist die Rolle des Staats und des privaten Sektors. 

Das Gespräch wurde von Uwe Altrock geführt und übersetzt.

 

„Nachbarschaft ist der Baustein für Gesellschaft"
Gespräch mit Bernd Zimmermann
http://www.bpferrer.org/BoroHall

Planungsrundschau:
Können Sie kurz die Schwerpunkte Ihrer Arbeit in der Bronx schildern?

Zimmermann:
Ich bin Stadtplaner und Soziologe und arbeite als Angestellter der öffentlichen Verwaltung. Ich habe einen großen Lernprozeß in meiner Auseinandersetzung mit der Gemeinde durchlebt. Unsere Perspektive hat sich dabei von einem Top-Down- zu einem Bottom-Up-Ansatz gewandelt. Dabei haben wir gelernt, daß sich die Lokalregierung anpassen muß an die Not in den Armutsgebieten. Mit konventionellen Planungsmethoden konnte man nichts mehr erreichen, weil ein Vertrauen in die Regierung überhaupt nicht mehr existierte. Diese konnte also nurmehr dazu da sein, die Grass-Roots-Prozesse, die sich von unten selbst entwickeln, zu unterstützen und das politische Risiko einzugehen, ihre Entscheidungsbefugnisse in einem ohnehin schon kleinen Bereich - die Bronx ist ein Stadtteil mit etwa 1,2 Mio. Einwohnern - auf Gruppen in der Gemeinde zu übertragen, diesen Kompetenz zu geben und die Entwicklung ihrer Kapazitäten zu unterstützen, so daß sie tatsächlich mündige Partner im Regierungsgeschäft werden. Wir reden heute bei den „Community Development Corporations" auch von der „vierten Regierungsinstanz" im Entwicklungsprozeß. Meine tägliche Arbeit basiert auf einer langen Erfahrung von 16 Jahren Tätigkeit vor Ort. Ich habe die Sprache der Investoren davor über zehn Jahre in Manhattan gelernt. Seitdem arbeite ich sozusagen für den „Underdog", und versuche, die Wünsche, Träume und Vorstellungen der Gemeinde zu übersetzen in den politischen Prozeß und die Stimme der Bevölkerung in der Position des Bezirksbürgermeisters Berücksichtigung findet.

Planungsrundschau:
Man hat, wenn man die Stadtentwicklungspolitik beobachtet, den Eindruck, daß es an Orten starker Investitionstätigkeit sehr schwer fällt, Macht an informelle und intermediäre Strukturen abzugeben. Wie könnte aus Ihrer Erfahrung heraus gelingen, die Chancen einer solchen Politik auch Entscheidungsträgern in stärker boomenden Städten und Gemeinden zu vermitteln?

Zimmermann:
Hier wie in New York City sind Merkmale sozialer Spaltung in der Stadt zu beobachten. Für Stadtteile, die nicht in den wirtschaftlichen und politischen Prozeß eingebunden sind, geht es darum, Investitionen auf verschiedenen Ebenen zu erreichen. Einmal glauben wir daran, daß emotionale Investitionen der Gemeindemitglieder in ihre Nachbarschaft notwendig sind, also immaterielle Investitionen. Materielle Investitionen in der Nachbarschaft versuchen wir dadurch zu fördern, daß man den Bewohnern die Gelegenheit zur Eigentumsbildung schafft, gerade im Wohnungssektor. Wir glauben sehr stark an die soziale Mischung der Bevölkerung, aus Mieten und Eigentümern. Wir glauben daran, daß die aufkommende Mittelschicht gebunden werden muß, damit sie nicht auch noch in die Vororte abwandert. Dazu soll ihnen Lebensqualität verschafft und Investitionsmöglichkeiten eingeräumt werden. Eine solche Strategie gelingt aber nur, wenn eine emotionale Bindung an die Nachbarschaft geschaffen wird. Diese hängt wiederum von den bestehenden Organisationsformen ab, ein Punkt der hier auf dieser Konferenz total unterbelichtet geblieben ist, nämlich die Frage danach, wie man zeitgemäße Organisationsformen bilden und isolierte und verarmte Nachbarschaften damit mündig machen kann, so daß sich diese Nachbarschaften als vollwertige Partner in den Wirtschaftsprozeß integrieren können. Durch eine auf gegenseitigem Vertrauen und solchem in die Verwaltung basierende funktionierende Nachbarschaft das erforderliche Image verleiht, daß man dort in Sicherheit, mit hoher Lebensqualität und mit verringerten sozialen Spannungen leben kann. Das ist unserer Meinung nach das ideale Klima für Investitionen, ob das nun Kleininvestitionen oder Investitionen von Wirtschaftsunternehmen sind, die nach Arbeitskräften suchen und hier gut untergebracht sind, wenn sie sich selbst zu einem Teil der Gemeinde machen. Das ist auch das Geheimnis des „Empowerment Zones"-Programms der Bundesregierung, ob Sie eine totale Interessenverflechtung zwischen Wirtschaft und Gemeinde erreichen. Das kann man beispielsweise durch „Wage-Tax-Credits" erreichen, also Steuervergünstigungen für angesiedelte Unternehmen, wenn sie Leute aus der Gemeinde vor Ort beschäftigen und dadurch beide Seiten profitieren.

Planungsrundschau:
Was sagen Sie zu Leuten, bei denen sich beim Begriff „Bronx" gleich die Haare sträuben?

Zimmermann:
„Kommen Sie selber her und überzeugen Sie sich!" Das Vorurteil existiert weltweit noch, und mehr vielleicht sogar in den USA selbst. Gegenüber der Situation vor 15 Jahren haben wir aber einiges geschafft, um unsere Nachbarschaften zu entwickeln. Es ist uns gelungen, eine neue zivilgesellschaftliche Kultur zu entwickeln, z.B. in den Planungsprozessen selber, und sind nun so weit, daß wir tatsächlich Partner werden können für die Wirtschaft.

Planungsrundschau:
Mit welchen Indikatoren messen Sie, daß Nachbarschaften wirklich „funktionieren"?

Zimmermann:
Es gibt in den USA einen Wettbewerb um die Auszeichnung als „All American City". Diese beruht ausschließlich auf dem sogenannten „Civic Index". Das ist eine Prüfung der sozialen Integration durch Selbsthilfe, Partnerschaften, Eigeninitiative usw. Das kann man natürlich nicht in quantitativer Art messen. Man mißt es normalerweise über eine Reduzierung der Kriminalität, an der Reduzierung von Frühschwangerschaften, von vorzeitigen Schulabgängern und solchen Indikatoren. Hier haben die Sozialwissenschaften noch zu wenig Instrumente entwickelt. Es ist aber so, daß der bürgerliche Stolz zurückgekommen ist, daß den Leuten ihre Nachbarschaft etwas bedeutet, wenn man mit ihnen redet, daß sie wieder Hoffnung haben, daß man dort eine Familie und wirtschaftlichen Erfolg haben kann, das sind ja alles Erwartungen, die man an das Leben hat. Man kann das eigentlich nur durch Gespräche erfahren, daß wir einen Weg zurückgelegt haben von der Hoffnungslosigkeit zum „Prinzip Hoffnung". Vielleicht sogar auch durch zurückgehende Beteiligung! Daß die Leute sich hier zufriedener fühlen mit ihrer Umwelt und die Krise nicht mehr da ist, wo man sich engagiert hat.

Planungsrundschau:
Wenn man sich hier auf dem Kongreß umhört, dann ist oft von einem „Turn-Around" die Rede. Wie erkennen Sie, ob ein Turn-Around nur eine Marketing-Kampagne eine echte Entwicklung ist?

Zimmermann:
Der beste Indikator ist natürlich die Arbeitslosenquote, ein sehr objektiver Indikator. „Civic Pride" ist natürlich nur sehr schwer meßbar, drückt sich aber auf die genannten verschiedenen Weisen aus, wie Kriminalität usw. Insgesamt ergibt sich auch ein aussagekräftiges Bild. Man muß natürlich auch sehr viel Wert darauf legen, daß die Leute sich am politischen Prozeß beteiligen und beispielsweise wählen gehen. Darauf haben unsere Gemeindeorganisationen auch sehr bestanden, daß ihre Mitarbeiter in die Wahllisten eingetragen werden. Wahlbeteiligung ist ein unbedingter Baustein für den Wiederaufbau der Nachbarschaften.

Planungsrundschau:
Welcher Teil dieser Erfahrungen ist auch für Manhattan nutzbar?

Zimmermann:
Nachbarschaft ist der Baustein für Gesellschaft. Alle Wirtschaftsaktivitäten können sich nur dann in einer Gesamtstadt positiv entwickeln, wenn die Gemeinde funktioniert. Haben Sie nicht funktionierende Gemeinden, und Kriminalität schwappt über und beeinflußt das Gesamtimage der Stadt als Investitionsstandort, weil sie so verbreitet ist, dann bekommen Sie auch keine Investoren. Wenn Sie aber funktionierende Nachbarschaften haben, Civic Pride, Partizipation und Verantwortung, dann kann die Gesamtstadt nur gewinnen. Baustein ist dafür die Gemeinde, ihre Qualität und Funktionsfähigkeit.

Planungsrundschau:
Was ist für Sie in Central Business Districts ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Beteiligung sowie dem Einfluß von Politikern, Investoren, Eigentümern und den nicht so zahlreich vorhandenen Bewohnern auf die Entscheidungen über Großprojekte, die die Stadt mit einem Schlag radikal verändern können? Was wäre eine legitime Beteiligungsform an einem Ort, wo Eigentümerinteressen eine stärkere Rolle spielen, die Bewohnerinteressen dagegen eine geringere?

Zimmermann:
Die angemessene Form wäre eigentlich - was meistens eben nicht passiert -, daß man die Arbeitsplätze, die dort geschaffen werden, auch der Gemeinde, in der das passiert, zugute kommt. Was normalerweise passiert ist, daß durch die Verkehrspolitik und Informationstechnologie die Leute aus den Vororten herangezogen werden, man aber die Armutsgebiete überspringt. Das ist eine falsche Politik, man muß sogar noch Arbeitskräfte aus dem Ausland heranholen, weil es nicht gelungen ist, die eigenen Arbeitskräfte dafür zu qualifizieren. Man muß vor allem eine Bildungs- und Verkehrspolitik entwickeln, die diese Nachbarschaften nicht isoliert, sondern voll integriert, und die dort lebenden Bewohner befähigt, auch in der City zu arbeiten.

Planungsrundschau:
Wie ist das Politikern zu vermitteln?

Zimmermann:
Schlecht! Politiker bemühen sich ja nur immer darum, ihre Position zu behalten. Darum ist Beteiligung am politischen Prozeß auf lokaler Ebene unwahrscheinlich wichtig. Politisches Engagement ist dort ein unerläßlicher Teil der Entwicklung von Nachbarschaften.

Planungsrundschau:
Sehen Sie hinsichtlich der von Ihnen benannten Defizite dieses Kongresses ein institutionelles Defizit bei den Organisatoren, liegt es am Zeitgeist oder was sind die Ursachen?

Zimmermann:
Ich habe mich nicht genauer mit der Organisation befaßt. Als unbefangener Teilnehmer, der hierherkommt und erwartet, daß man Armut und Verbesserung der Lebensqualität hier diskutiert, höre ich nur sehr konventionelle Schlagworte und Begriffe. Ich sehe keinen Willen, über das konventionelle Denken hinauszugehen, auf Best Practices zu gucken, die man in veschiedenen Teilen der Welt bereits hat, und einmal wirklich unsere Regierungsinstitutionen im Hinblick auf ihre bürokratischen Funktionen in Frage zu stellen und ganz andere Formen sozialer Organisationen vor allem für Armutsgebiete zu entwickeln. Es besteht ein ungeheures Mißtrauen zwischen Bevölkerung und Politik, eine totale Isolierung vom Wirtschaftsprozeß, eine totale Isolierung vom politischen Prozeß. Man müßte in die Richtung gehen zu fragen, welche Organisationformen brauchen wir heute - oder müssen wir wieder erfinden -, um die Brücken zu schlagen. Hier ist diese Tagung völlig fehlgeschlagen. Beispielsweise geben wir den Architekten in der Städteplanung eine unwahrscheinlich wichtige Rolle. Gemeindeentwicklung ist aber nicht eine Frage der Architektur. Gemeindeentwicklung ist eine Frage von umfassendem Community Building, wobei natürlich Architektur eine Rolle spielt, aber vielleicht sogar eine untergeordnete. Es geht vielmehr darum, auf die Mechanismen zu gucken, die gegenseitige Verläßlichkeit und Vertrauen bringen. Da muß einmal die Verflechtung von Wirtschaft und Politik hinterfragt werden, und die gängigen Konzepte von Stadtentwicklung.

Planungsrundschau:
Was ist von den Ideen des Community Building auf den suburbanen Raum anwendbar?

Zimmermann:
Es geht darum, Zersiedlung zu vermeiden, denn die größte Gefahr für unsere Nachbarschaften ist die Entmischung. Trotz des inzwischen in den USA gängigen Begriffs des „smart growth" greifen die hierfür bisher entwickelten Instrumente noch keineswegs. Weiter sind die ökologischen und auch die ökonomischen Probleme der Zersiedlung zu beachten. Beispielsweise verliert New York City durch Verkehrsstaus jährlich 6 Mrd. US-Dollar. Hinzukommen gesundheitsbezogene Ausgaben durch Luftverunreinigungen usw. Auch für den demokratischen Prozeß ist die Suburbanisierung sehr schlecht, und die Bewohner von Vororten sehen die Welt nur noch einer Perspektive und machen sich keine Gedanken mehr über die Alten, Kranken oder Ausländer usw. Durch die Zersiedlung wird der politische Prozeß in vieler Hinsicht reaktionär und konventionell. Um auf die Frage etwas präziser einzugehen: Man müßte versuchen, die weitere Zersiedlung zu stoppen und neue auf Massenverkehrsmitteln beruhende Trabanten entwickeln, um dort wiederum Stadt als Entwicklungsprinzip zu verfolgen.

Planungsrundschau:
Was davon leistet der New Urbanism?

Zimmermann:
Der hat es eigentlich erst wieder in die Diskussion gebracht, daß wir bei der Entwicklung neuer Städte eine adäquate Dichte hineinbringen, nachbarschaftliche Nähe. Die Orientierung ist ja wirklich die alte Stadt. Das haben wir zu lange vernachlässigt als ein Entwicklungsprinzip, das für uns noch genauso wichtig ist wie in der Polis im alten Griechenland. Demokratie wird am besten gefördert durch Interaktion im städtischen Raum.

Planungsrundschau:
Was werden Sie versuchen, wenn der Aufschwung in den USA zu Ende geht?

Zimmermann:
Dann wird man wahrscheinlich vieles noch lösen müssen, was man bisher nicht lösen konnte. Uns geht es momentan sehr sehr gut. Das Problem ist die wohlstandsorientierte Konkurrenz um Steuereinnahmen. Im Ansiedlungswettbewerb spielen die Unternehmen weiter die Gemeinden gegen einander aus. Dadurch werden Mittel von den Gemeinden für Ansiedlungsförderung gebunden, die eigentlich für Bildung und Ausbildung eingesetzt werden müßten.

Das Gespräch führte Uwe Altrock.

 

„Städte sind ein Produkt des verfolgten Entwicklungsmodells"
Gespräch mit Kirtee Shah
http://mweb.co.za/hi/hic

Planungsrundschau:
Auf welche Weise können Sie in Ihrer alltäglichen Arbeit als NGO-Vertreter an Entscheidungsprozessen über Stadtpolitik teilhaben?

Shah:
Wie können wir uns als NGO Gehör verschaffen, um im Entscheidungsprozeß beteiligt zu werden? Ich arbeite auf drei Ebenen, als NGO innerhalb der Graswurzel-Bewegung, außerdem in politischen Foren auf der nationalen Ebene und schließlich auf der internationalen Ebene als der Repräsentant der Habitat International Coalition (HIC). Ich glaube, daß es auf all diesen Ebenen Raum für die Arbeit von NGOs gibt. Dieser Raum ist in den letzten zwei Jahren sowohl in der nationalen wie auf der internationalen Arena geschaffen worden. Beispielsweise komme ich aus einer sehr kleinen NGO, aber die Arbeit, die vor Ort gemacht wurde, und das Denken, das dahintersteht - obwohl diese Arbeit quantitativ nicht sehr ausgedehnt war -, gab uns die Möglichkeit, auf der internationalen Ebene zu arbeiten. In früheren Jahren habe ich mit der indischen Planungsbehörde als Berater für die Wohnungssituation in Slums zusammengearbeitet. Ich war ein Mitglied der nationalen Kommission für Urbanisierungsfragen, die vom Premierminister eingesetzt wurde, und die die gesamte Bandbreite der Urbanisierungsproblematik, der städtischen Institutionen und der Stadtpolitik im Land untersucht hat. Ich war Vorsitzender des nationalen Unterkomitees für städtische Armut, Vorstandsmitglied der Wohnungsentwicklungsgesellschaft, der größten öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft in Indien. All dies war nur möglich, weil der beschriebene Handlungsraum geschaffen wurde. In ähnlicher Weise hat HIC auf der internationalen Ebene im Rahmen von Habitat II eine entscheidende Rolle im Einsatz für das Recht auf Wohnraum und abgesicherte Mietverhältnisse gespielt. All das ist eine positive und wünschenswerte Entwicklung. Wenn die Menschen auf der Graswurzelebene sich an der Formulierung der nationalen Politik beteiligen, ist die Verknüpfung der Mikro- und der Makroebene von Stadtpolitik entscheidend. Sie besteht darin, daß Leute, die ausschließlich auf der Makroebene der Politikformulierung tätig sind, in den Genuß kommen, die Prozesse auf der Graswurzelebene zu verstehen, und die NGOs, die auf nationaler Ebene beteiligt werden, verstehen ihre Probleme und ihre Arbeit auf der gesamtstaatlichen Ebene im Kontext neu. In einem historischen Prozeß hat sich inzwischen in Indien wie auch in anderen Entwicklungsländern die Akzeptanz für die Zivilgesellschaft verstärkt, weil man gemerkt hat, daß NGOs näher an den Menschen sind und ihre Probleme aus einer anderen Perspektive verstehen.

Planungsrundschau:
Die Vorstellung des Weltberichts erschien mir sehr oberflächlich und ökonomistisch. Wie stehen Sie zu den dort gegebenen Empfehlungen?

Shah:
Ich habe den Weltbericht bisher noch nicht genau studieren können, ihn aber überflogen. Ich verstehe, warum ihn das kennzeichnet, was Sie als „ökonomistische Orientierung" bezeichnen. Denn auf diese Weise werden Städte im wesentlichen betrachtet. Es kommt darauf an, wer sie betrachtet. Die Regierungen sehen sie als Antriebskräfte des Wirtschaftswachstums, als Investitionsstandorte, als Orte, an denen es möglich ist, die Menschen wohlhabend und glücklich zu machen. Die Unternehmen betrachten sie als auch im Zusammenhang von Investitionen, Wachstum und Infrastruktur. Ich sage nicht, daß Regierungen und Unternehmen die Armen nicht zur Kenntnis nehmen können, aber das stellt nicht ihr Hauptgeschäft dar, und deshalb bin ich überhaupt nicht überrascht. Ich habe eine ganz andere Ansicht, da ich weder zur Regierung noch zur Unternehmerschaft gehöre. Ich gehöre zur Zivilgesellschaft. Meine Rolle und mein Verständnis als jemand, der in den vergangenen 30 Jahren näher an den Armen gewirkt hat, geht dahin, daß ich die Frage stelle: Was wird die Entwicklung der Städte den Armen bringen? Wie kann sie helfen? Wie wird sie das Leid reduzieren? Wie wird sie dazu beitragen, die Armen zu Vollmitgliedern der Gesellschaft zu machen, sie zu integrieren? Wenn Sie diese Fragen stellen, kommen Sie darauf, wie die Verhältnisse eingeschätzt werden und was bisher erreicht worden ist. Ich kann nicht wie die Regierungen denken, und ich erwarte von Ihnen und den Unternehmern nicht, daß sie denken wie ich. Nur dann, wenn wir unsere je unterschiedlichen Standpunkte kennen und verstehen, werden wir allerdings in der Lage sein, mit den drängenden Fragen fertig zu werden. Aber überrascht bin ich nicht. Denn so sind die Verhältnisse.

Planungsrundschau:
In Ihrem Beitrag kritisierten Sie das gängige wirtschaftliche Entwicklungsmodell. Peter Hall, Autor des Weltberichts, stimmte Ihnen darin zu und machte deutlich, daß der Bericht ebenfalls über verschiedene Modelle spricht. Dann ist ja alles in bester Ordnung, oder was halten Sie von den Beziehungen zwischen dieser Konferenz, dem ökonomischen Modell und dem Bericht?

Shah:
Ich glaube nicht, daß die Anderen über die Ausrichtung des Berichts sprechen. Es gibt tatsächlich eine große Divergenz. Aus dem ganzen Bericht spricht so deutlich ein bestimmtes Entwicklungsmodell, daß nicht einmal über Entwicklungsmodelle diskutiert wird. Die wesentliche These meiner Ausführungen war, daß die Städte tatsächlich ein Produkt des verfolgten Entwicklungsmodells und der Wirtschaftspolitik sind. Da sie unmenschlich sind, nicht nachhaltig sind, voll von Armut sind, ist das also eine Folge dieser Wirtschaftspolitik und dieses Entwicklungsmodells. Dies ist aber nicht die These des Weltberichts.

Das Gespräch führte und übersetzte Uwe Altrock.